Über Lise Meitner, die jüdische Wissenschaftlerin, die die Kernspaltung entdeckte

Seit ihrem Tod im Jahr 1968 war Lise Meitners Name fast in Vergessenheit geraten. Selbst wenn sie erwähnt wurde, geschah dies drei Jahrzehnte lang im Schatten ihres Kollegen Otto Hahn, der sich systematisch ihre wissenschaftlichen Leistungen zuschrieb. Meitner und Hahn schrieben mehr als 50 Artikel zusammen. Doch als sie die Kernspaltung entdeckten, den Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen Errungenschaften, beschloss Hahn Meitners Namen einfach wegzulassen und zu suggerieren, dass er die Kernspaltung allein entdeckt hätte. Doch in Wahrheit war Lise Meitner für diese bahnbrechende Entdeckung verantwortlich.

Lise Meitner wurde am 7. November 1878 in Wien in eine etablierte jüdische Familie geboren. Sie war das dritte von acht Kindern Philip Meitners, einem der wichtigsten Wiener Anwälte, und seiner Frau Hedwig (geb. Skowran).

Obwohl ihr Elternhaus ursprünglich jüdisch war, wuchs sie liberal auf und konvertierte 1908 zum Christentum. Dies sollte sie allerdings nicht vor der Verfolgung durch die Nazis schützen. In der Familie Meitner war das Lernen sowohl für Jungen als auch für Mädchen wichtig: Eine Schwester wurde eine bekannte Pianistin, eine andere Schwester Professorin für Physik, ein Bruder promovierte in Chemie und ein anderer war Ingenieur.

Lise schloss ihre Grundausbildung im Alter von 14 Jahren ab und träumte davon, Physik zu studieren, aber das österreichische Recht hinderte Mädchen daran, Gymnasien zu besuchen, die die Jungen auf das Universitätsstudium vorbereiteten. Sie ging schließlich der Bitte ihres Vaters nach, der sich um ihren Lebensunterhalt sorgte, und wandte sich dem Französisch-Studium zu, um ein Lehrzertifikat zu erhalten. Das Studium dauerte drei Jahre, aber am Ende von Meitners zweiten Jahr änderte die österreichische Regierung das Gesetz und erlaubte Frauen die Zulassung zur Universität, wenn sie die Prüfungen bestanden hatten. Nach ihrem Abschluss des Lehrerexamens für Französisch erklärte sich Meitners Vater bereit, einen Privatlehrer einzustellen, um sie auf die Aufnahmeprüfungen vorzubereiten. Im Alter von 23 Jahren wurde sie zum Studium der Physik zugelassen. Die neun Jahre, die seit ihrem Schulabschluss im Alter von 14 Jahren vergangen waren, nannte sie „die verlorenen Jahre“.

Als Freiwillige an der Spitze der Wissenschaft

Meitner war die erste Frau, die zum Physikstudium an der Universität Wien zugelassen wurde. Nach fünfjährigem Studium promovierte sie 1906 mit Auszeichnung über die Wärmeleitung inhomogener Körper. Aber sie konnte als Frau nur von einer akademischen Position träumen.

Meitner interessierte sich für Radioaktivität und bewarb sich um ein Postdoktorandenstipendium im Labor von Marie Curie in Paris, allerdings erfolglos. Mehr Glück hatte sie an der Universität Berlin, die damals ein wichtiges Zentrum für das Studium der Physik war, und lernte dort den gleichaltrigen Chemiker Otto Hahn kennen. Ihre gemeinsamen Interessen führten zu einer Zusammenarbeit, die etwa 30 Jahre dauerte.

Als Frau war Meitner die Arbeit in den Laboren des Instituts für Physik verwehrt. Als offizielles Argument schob man ihr langes Haar vor, das in der Nähe von Laborinstrumenten aufflammen könnte. Die gleiche Argumentation galt allerdings nicht für Männer mit langen Bärten. Sie durfte schließlich auf kleinem Raum im Keller arbeiten und beschäftigte sich mit der Messung von Betastrahlung, die von verschiedenen radioaktiven Materialien ausgestrahlt wird. In weniger als drei Jahren veröffentlichte sie mit Hahn neun wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema. Auf die Frage, warum sie ihm die Anerkennung und den persönlichen Ruhm ließ, antwortete sie immer, dass sein Name besser bekannt sei.

1909 hob die Universität das Verbot auf und Meitner durfte die Labore selbst besuchen. Obwohl ihre Arbeit mindestens der von Hahn entsprach, wurde sie nicht bezahlt und musste sich auf die von ihrem Vater gesendete Unterhaltsbeihilfe verlassen.

Als Hahn zum Leiter der Abteilung für Radiochemie am Kaiser-Wilhelm-Institut ernannt wurde, nahm er Lise Meitner mit, kümmerte sich aber nicht um ihr Gehalt. Als Lises Vater starb, wurde ihre Rente gestrichen. Obwohl sie wissenschaftliche Arbeiten übersetzte und für eine populärwissenschaftliche Zeitschrift schrieb, kam sie kaum über die Runden.

Lise Meitner mit Otto Hahn | Quelle: Science Photo Library
30 Jahre Zusammenarbeit, auch über die feindlichen Linien hinweg. Lise Meitner mit Otto Hahn | Quelle: Science Photo Library

Die deutsche Marie Curie

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich Meitner freiwillig als Röntgentechnikerin in einem Krankenhaus. Sie arbeitete oft 20 Stunden am Tag. Das Grauen, dem sie dort ausgesetzt war, hinterließ einen tiefen Eindruck in ihr und machte sie zu einer überzeugten Pazifistin.

Auch während des Krieges brachte sie die wissenschaftlichen Themen, die sie interessierten, weiter voran. Unter anderem plante sie ein langwieriges Experiment, das in ihrer Abwesenheit durchgeführt werden konnte, um den Zusammenhang zwischen Uran und Actinium zu beweisen. In jeder freien Minute besuchte sie das Labor, um den Fortschritt des Experiments zu überprüfen.

Ihre Konsequenz zahlte sich aus. Meitner entdeckte, dass die Probe im Experiment Alphastrahlung ausschied, und bewies, dass sie wie erwartet Actinium enthielt. Obwohl Hahn kaum an dem Experiment beteiligt war, erlaubte Meitner ihm, seinen Namen zuerst auf dem Artikel zu veröffentlichen.

Nach dem Krieg nahm Meitner eine Professur und bald darauf eine Lehrstelle an der Universität Berlin an. Sie arbeitete auch weiterhin mit Hahn am Kaiser-Wilhelm-Institut zusammen. Ihre Forschungsgruppe gehörte zu den wenigen, die die nukleare und radioaktive Forschung in der Welt leiteten.

Die frühen 1930er Jahre waren vielleicht Meitners produktivste wissenschaftliche Periode und sie wurde als „deutsche Marie Curie“ bezeichnet. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten versuchte Meitner, sich von der Politik zu lösen und sich auf die wissenschaftliche Arbeit zu konzentrieren. Aber ohne Erfolg.

Die Nazis berücksichtigten weder ihre politischen Ansichten noch ihre Konversion zum Christentum. Bis 1938 schützte sie ihre österreichische Staatsbürgerschaft, doch nach dem Anschluß Österreichs an das Dritte Reich musste Hahn sie bitten, das Labor zu verlassen und nicht zurückzukehren. Im Alter von 60 Jahren war Meitner gezwungen, ihr Forschungsleben aufzugeben und all ihr Hab und Gut zurückzulassen. Mit Hilfe eines niederländischen Kollegen kam sie in die Niederlande und von dort nach Stockholm, wo sie im Labor eines schwedischen Physikers beschäftigt war.

Meitner (dritte von links) mit einigen großen Wissenschaftlern der Zeit, darunter Rutherford, Geiger und Chadwick | Quelle: Science Photo Library
Meitner (dritte von links) mit einigen großen Wissenschaftlern der Zeit, darunter Rutherford, Geiger und Chadwick | Quelle: Science Photo Library

Erstanspruch

Auch nachdem Meitner Deutschland verlassen hatte, unterstützte sie Hahn weiterhin in geheimer Korrespondenz. Sie trafen sich auch heimlich, als er im November 1938 Kopenhagen besuchte. Aufgrund der Umstände war Hahn nicht in der Lage, ihre Zusammenarbeit zu veröffentlichen, und er erwähnte sie in den Artikeln, deren Ergebnisse auf ihrer Korrespondenz basierten, überhaupt nicht.

Hahn informierte Meitner auch über die Ergebnisse seiner Experimente. So fand er heraus, dass ein Beschuß von Neutronen auf ein Uranatom Atome wie Barium und Krypton erzeugt. Meitner dachte viel über die Bedeutung des Ergebnisses nach und fand in der Weihnachtsferien von 1938 den Schlüssel zur Lösung des Rätsels.

Meitner verbrachte ihren Urlaub in einem kleinen schwedischen Küstendorf mit ihrem Neffen, dem Physiker Otto Frisch, der aus Österreich nach Großbritannien geflohen war und später mit Niels Bohr in Dänemark arbeitete.

In ihren Gesprächen mit Frisch entwickelte sie die Idee, dass Barium und andere Produkte das Ergebnis des Zerfalls des Kerns des Uranatoms in kleinere Komponenten sind. Die Idee wurde mit Berechnungen von Bohr unterstützt, wonach der Einfluss von Neutronen auf Uran eine viel stärkere Energie liefert als erwartet.

Nach den Ferien schickten Meitner und Frisch einen kurzen Artikel an die Fachzeitschrift Nature. Sie wollten ihre Ergebnisse schnell vor anderen veröffentlichen, waren sich jedoch nicht bewusst, dass auch Hahn zu dem gleichen Ergebnis gekommen war, und einen relevanten Artikel an eine deutsche wissenschaftliche Zeitschrift geschickt hatte. In Hahns Artikel wurde der chemische Aspekt der Ergebnisse detailliert beschrieben, während Meitner und Frisch die physikalische Erklärung für den Prozess lieferten und den Begriff „Spaltung“ prägten. Obwohl Meitners ihren Artikel früher eingeschickt hatte, verzögerten die Redakteure von Nature die Bearbeitung und Hahns Artikel wurde vor ihrem veröffentlicht.

Bombe und Distanzierung

Meitner wurde eingeladen am Manhattan-Projekt teilzunehmen. Die Amerikaner wollten vor den Deutschen und Sowjets eine Atombombe entwickeln. Als Pazifistin lehnte sie das Angebot ab, ebenso wie die Weitergabe ihres Wissens, das bei der Herstellung einer Bombe helfen könnte. Sie glaubte, dass Frauen den Widerstand gegen den Krieg führen sollten.

Während des Krieges wurde die Verbindung zwischen Meitner und Hahn unterbrochen. Sie blieb in Schweden und er in Berlin. Am Ende des Krieges war Hahn einer von neun deutschen Wissenschaftlern, die die Alliierten in einem abgelegenen Herrenhaus in England inhaftiert und verhört haben in der Annahme, dass sie während des Krieges eine Atombombe entwickelt hatten.

Noch während seiner Inhaftierung im November 1945, drei Monate nach dem Abwurf der Atombomben auf Japan, erhielt Hahn die Nachricht, den Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung der Kernspaltung erhalten zu haben. Der Preis wurde rückwirkend für das Jahr 1944 vergeben, in dem kein Gewinner ausgewählt worden war.

Nach dem Krieg nahmen Hahn und Meiner den Kontakt wieder auf. Meitner empfing Hahn und seine Frau in Stockholm und begleitete ihn sogar zur Nobelpreisverleihung, „damit die Menschen ihre Handlungen nicht missverstehen“, sagte sie. Sie wurde jedoch durch Hahns Haltung verletzt, der ihren wichtigen Teil bei der Arbeit, die ihm den Preis eingebracht hatte, nicht erwähnte. In einem Brief an ihre Freundin schrieb Meitner, dass Hahn das Recht auf die Auszeichnung ehrlich verdient habe, aber sie glaubt, dass er „weit davon entfernt war zu verstehen, was den Prozess verursachte“.

Trotz ihrer beruflichen Wertschätzung für Hahn schwand ihre persönliche Freundschaft, und Meitner kritisierte ihn und andere deutsche Wissenschaftler öffentlich, die im nationalsozialistischen Deutschland geblieben waren und sich nicht gegen das Regime ausgesprochen hatten.

Meitner (Mitte) mit Studentinnen | Quelle: Science Photo Library
Ein Durchbruch für Frauen in der Welt der männlichen Physiker. Meitner (Mitte) mit Studentinnen | Quelle: Science Photo Library

Ruhe und Ruhm

Schließlich erreichte die offizielle Anerkennung auch Meitner, zumindest teilweise. Im Oktober 1945 wurde sie in die schwedische Akademie der Wissenschaften gewählt und war die dritte Frau in 200 Jahren, die diese Auszeichnung erhielt. Sie wurde eingeladen, ein Semester an der University of Washington zu unterrichten. Als sie in den USA ankam, stellte sie überrascht fest, dass sie berühmt war und dass die Zeitungen dort ausführlich über ihre Arbeit und ihre Lebensgeschichte als bahnbrechende Wissenschaftlerin berichteten, die aus Deutschland geflohen war und den Grundstein für die Entwicklung der Atombombe gelegt hat.

Nach ihrem Besuch in den USA kehrte Meitner nach Schweden zurück, erhielt die schwedische Staatsbürgerschaft und setzte ihre produktive wissenschaftliche Arbeit fort. Auch nach ihrer Pensionierung kam sie weiter ins Labor und betreute Studenten. 1960 zog sie nach Cambridge, um nahe bei ihrem Neffen Otto Frisch zu sein. Sie hielt weiterhin Vorträge, engagierte sich in der wissenschaftlichen Welt und erhielt sogar mehrere renommierte Auszeichnungen. 

Meitner starb am 27. Oktober 1968 im Alter von 89 Jahren in England. Im Gegensatz zu vielen Wissenschaftlern ihrer Zeit waren Hahn und sie in Bezug auf die Laborsicherheit sehr streng und lebten lang. Ihr Neffe Frisch hat auf ihrem Grabstein die passende Inschrift eingraviert: Lise Meitner: Eine Physikerin, die ihre Menschlichkeit nie verloren hat.

Nach ihrem Tod wurde Meitner noch mehr gefeiert. Unter anderem ist ein Forschungsinstitut in Berlin nach ihr (und nach Hahn) benannt. Nach ihr benannten Astronomen Krater auf dem Mond und dem Mars sowie einen Asteroid. Mehrere wichtige Gremien, darunter die European Physics Society und die schwedische Universität Göteborg, vergeben in ihrem Namen renommierte wissenschaftliche Auszeichnungen. 1997 wurde sie in den renommiertesten Club von Wissenschaftlern aufgenommen, deren Namen im Periodensystem verewigt sind, wobei das Element 109 nach ihr benannt wurde - Meitnerium.