Das sechste große Aussterben, das in vollem Gange ist, konfrontiert uns mit gewichtigen Fragen über die Definition des Begriffes des Aussterbens – und über unseren Platz in der Natur.

Die Erde ist das Zuhause vieler Arten von Tieren und Pflanzen, aber in letzter Zeit scheint sich dieses Haus zu entleeren. Jeden Tag sterben mehr und mehr Arten aus, und dies mit einem erschreckenden Tempo. Einige Schätzungen sprechen von drei Arten pro Stunde, andere geben weniger dramatische Zahlen. Aber auf lange Sicht haben sie alle die gleiche Bedeutung – wir befinden uns im Verlauf des sechsten großen Aussterbens in der Geschichte der Erde.

Großes Aussterben ist eine Zeit, in der sich die biologische Vielfalt schnell und signifikant verringert. Die letzten fünf Aussterbenswellen ereigneten sich vor der Zeit, als wir die Bühne der Geschichte betraten. Der Grund des letzten - und vielleicht bekanntesten – war ein Asteroideneinschlag, der die Dinosaurier vernichtete.

Im Gegensatz dazu ist der Grund für das heutige, das sechste, der Mensch. Wir haben uns der Lebensräume von anderen Arten bemächtigt; wir haben einen Klimawandel verursacht, der zu schnellen Veränderungen von Lebensräumen geführt hat, an die sich die dort lebenden Arten nur schwer anpassen können; wir sind der Grund für Katastrophen, für die Wildtiere einen hohen Preis bezahlt haben; wir jagen Tiere für Nahrung, für finanziellen Gewinn oder um Arten zu entfernen, die wir schädlich oder bedrohlich nennen. Was auch immer der spezifische Grund ist – die Menschheit ist heute so dominant, dass wir wahrscheinlich zumindest einen Teil der Schuld beim Aussterben einer Art tragen.

Stimmen aus der Vergangenheit

Nicht immer war klar, dass Arten überhaupt aussterben können. Diese Erkenntnis entwickelte sich erst im 18. Jahrhundert, und wer inder Ansicht Vieler als Erster gilt, der sie formulierte, war der französische Zoologe Georges Cuvier. 1796 veröffentlichte er einen Artikel, in dem er zeigte, dass der Mastodon – ein Säugetier aus der Mammutfamilie – eine andere Art als der Elefant war. Daraus folgerte er, dass dies eine Art war, die in der Vergangenheit gelebt hatte und ausgestorben ist.

Der Amebelodon: Wie die Mastodonten eine der Arten, aus denen sich der Elefant entwickelte. Zeichnung: Wikipedia, gemeinfrei
Der Amebelodon: Wie die Mastodonten eine der Arten, aus denen sich der Elefant entwickelte. Zeichnung: Wikipedia, gemeinfrei

Heute würde keiner mehr eine solche Theorie in Zweifel ziehen, aber zu seiner Zeit war die Vorstellung weitverbreitet, dass Fossilien Überreste bestehender Arten seien, die jetzt anderswo auf der Erde leben, oder von Tieren, die vor der biblischen Sintflut lebten. Die Idee einer flexiblen Natur, in der einige Arten aussterben und andere sich entwickeln, war unvorstellbar. Viele behaupteten, dass die Natur stabil und unveränderlich sei. Dazu gesellte sich die jüdisch-christliche Auffassung, dass alle Arten Gottes Geschöpfe seien, und deshalb galt die Idee, dass sie aussterben könnten - sozusagen die Umkehrung des göttlichen Planes -  als absurd. Und tatsächlich mussten viele Jahre vergehen, damit die neue Erkenntnis anerkannt wurde. Der Dodo (auch die Dronte genannt), zum Beispiel, starb im 17. Jahrhundert aus, aber erst im 19. Jahrhundert erkannte man, dass es das war, was geschehen war.

Eine umstrittene Rettung

Heute scheinen nur wenige am Aussterben zu zweifeln und daran, dass es zu bekämpfen sei. Und trotzdem gibt es kein Einverständnis, nicht einmal über die einfachsten Fragen, wie zum Beispiel: Was ist Aussterben? Oder: Was soll dagegen gemacht werden?

Die meisten Menschen sind sich einig, dass wir versuchen sollten, gefährdete Arten zu retten. Aber es gibt solche, die sagen: „Nicht unbedingt“. Einer von ihnen ist der Unternehmer, Aktivist und Autor Stuart Brand, einer der Gründer der Organisation „Revive and Restore“ (Wiederbeleben und Wiedereinführen), die an der Entwicklung neuer Mittel zum Erhalten der biologischen Vielfalt unter Verwendung von Gentechnologie arbeitet. In einem 2015 veröffentlichten Artikel schlug er einen anderen Schwerpunkt für unser Verständnis des Aussterbens vor.

Laut Brand befinden wir uns gar nicht inmitten eines großen Aussterbens, aber es sei möglich, dass dies in ein paar Jahrzehnten geschehe. Die Daten, die er habe, unterstützen dies nicht und ergeben eine breite Palette von Prognosen. Warum also, fragt er, mache das Thema Schlagzeilen? Weil die Öffentlichkeit sich hauptsätzlich dann damit befasse, wenn eine geliebte Art gefährdet sei, was zu einem Aufschrei der Verzweiflung führe.

Aber dies sei nicht das wirkliche Problem, vor dem wir stehen, wenn wir die Natur erhalten wollen, und der Fokus sei falsch. Seiner Meinung nach sollten wir nicht um das Überleben der einen oder anderen Art kämpfen, sondern um das Überleben von „Rollen“, die verschiedene Arten in ihrem Lebensraum spielen. Dies tönt vielleicht wie dasselbe, anders formuliert, es ist aber ein grundsätzlicher Unterschied.

Die Art und Weise, wie wir über das Aussterben denken, sagt Brand, wird von Studien beeinflusst, die auf isolierten Inseln durchgeführt wurden und unser Wissen über Ökologie maßgeblich beeinflusst haben – zum Beispiel Charles Darwins Reise zu den Galapagos-Inseln. Er gibt zu, dass auf den Inseln tatsächlich eine ernsthafte Aussterbensgefahr besteht, aber die sei die Ausnahme.

Inseln bedecken nur etwa drei Prozent der Erdoberfläche, und die Probleme auf den Inseln sind für die anderen 97 Prozent, auf denen sich die Kontinente mit Seen und Binnenmeere befinden, irrelevant. Auf diesen haben die verschiedenen Tierarten bessere Möglichkeiten, mit Gefahren umzugehen, wie Wanderung, Anpassung an die neue Umwelt, und Hybridisierung – Vermischung mit ähnlichen Arten. Die Art mag sich ändern, aber was soll’s? Wenn Milliarden von Jahren von Evolution uns etwas gelehrt haben, dann ist es die Tatsache, dass sich die Natur stetig auf Ausweitung der biologischen Vielfalt hinzubewegt. Und das wird auch jetzt geschehen, sagt Brand.

Die wirkliche Gefahr liege in etwas Anderem, das geschehen könnte – nämlich eine Situation, in der die Bevölkerung einer Art nicht ausstirbt, sondern sich so stark vermindert, dass sie die Funktion nicht mehr ausüben kann, die sie in ihrem Lebensraum hat. In einer solchen Situation wird der gesamte Lebensraum geschädigt, und das ist es, was es zu vermeiden gilt. Das bedeutet, dass das Aussterben einer Art, die keine bedeutende Rolle in ihrem Lebensraum spielt, oder deren Rolle von anderen Arten übernommen werden kann, uns nicht besonders stören muss.

Der einsame George. Photo: Shutterstock
Der einsame George. Photo: Shutterstock

Denkt an den einsamen George, bittet uns Brand, und meint die Riesenschildkröte auf Galapagos, die 2012 gestorben ist. Da er der letzte seiner Art war, kam sein Tod weltweit in die Schlagzeilen. Ökologen aber raubte es nicht den Schlaf. George war vielleicht der letzte seiner Art, aber sie wussten, dass es zehn andere verwandte Unterarten gibt, die die gleiche Rolle in ihrem Lebensraum spielen, und ihr Zustand verbessert sich sogar. Für sie also und für ihre Umwelt war es kein Drama. 

Mit anderen Worten, das Aussterben einer bestimmten Art ist nicht das „richtige“ Aussterben, das uns stören sollte. Was uns stören sollte, ist, wenn eine wesentliche Funktion in einem Lebensraum nicht mehr erfüllt wird, wie die Existenz von Raubtieren, Aasfressern, und Ähnliches. Die Natur ist dynamisch und kraftvoll, und verändert sich ständig. Das eine oder andere Detail in ihr spielt keine Rolle an sich, sondern nur, ob sie sich weiterentwickeln kann. Deshalb, so Brand, wenn wir über Aussterben sprechen, benennen wir nicht das richtige Problem.

Fünf Schattierungen von „ausgestorben“

Wenn man sich nicht darauf einigen kann, ob das Aussterben schlimm ist oder nicht, vielleicht können wir uns wenigstens auf die Definition des Begriffes “ausgestorben“ einigen?

Jeder wird bestimmt zugeben, dass eine Art, von denen es keine lebenden Exemplare mehr gibt, ausgestorben ist. Das ist einfach. Aber was ist mit einer Art, die noch nicht ausgestorben ist, aber keine Chance mehr hat, zum Beispiel, weil es nur noch ein Exemplar gibt? Und wenn es sich erfolgreich – mit Hilfe von Wissenschaftlern – mit einem Exemplar aus einer ähnlichen Unterart gepaart hat und sich daraus Nachkommen ergeben haben? Ist jetzt die Art vom Aussterben gerettet, oder gehören die Nachkommen zu einer neuen und anderen Art?

Sowohl Wissenschaftler wie Naturschützer neigen dazu, solche Fragen zu ignorieren, wenn sie vom Aussterben sprechen. Der Genetiker Ben Novak, der leitende Wissenschaftler in Brands Organisation, findet sie wichtig. In einem 2018 veröffentlichten Artikel meinte Novak, dass wir, wenn wir verstehen wollen, was Aussterben ist, auch verstehen müssen, was eine „Art“ ist, denn diese beiden Fragen seien miteinander verbunden.

Stellt euch zum Beispiel vor, dass Art A sich evolutionär und ohne menschlichen Eingriff zu Art B entwickelt. Heißt das, dass Art A ausgestorben ist und Art B eine neue Art ist? Oder denkt an Kreuzung: Nehmen wir einmal an, dass Art C sich geschlechtlich mit Art D fortpflanzt und daraufhin phänotypisch verschwindet – das heißt bezüglich seiner äußeren Merkmale, auch wenn einige Exemplare von D noch den Genotyp von C tragen – seine genetischen Eigenschaften. Heißt das, dass C ausgestorben ist? Und sind diese Exemplare von Art D mit dem Genotyp von C eine neue Art, auch wenn sie genauso aussehen und sich genauso verhalten wie die anderen Exemplare von Art D?

Novak gibt keine Antworten auf diese Fragen. Er fragt sie, um zu behaupten, dass Forscher, die zum „Erhaltungsparadigma“ gehören, wie er sie nennt, diese ignorieren. Das Aussterben ist ein komplexes Thema, aber die Erhaltungsbemühungen fokusieren, so meint er, auf einer Dichotomie zwischen „lebenden Arten“ und „ausgestorbenen Arten“.

Der Dodo. Eine ausgestorbene Art. Illustration : Science Photo Library
Der Dodo. Eine ausgestorbene Art. Illustration : Science Photo Library

Gegen genau diese Trennung argumentiert Novak. Er schlägt stattdessen verschiedene Aussterbungsstufen vor. Die erste und einfachste ist das lokale Aussterben, also eine Art, die an einem bestimmten Ort ausgestorben ist, aber woanders weiterhin gedeiht. Zum Beispiel sind Löwen schon lange in Mittelosten ausgestorben, leben aber noch immer in Afrika. Schlimmer steht es um eine Art, die es nicht mehr in der Natur gibt, sondern nur noch in Reservoiren, zum Beispiel im Zoo. Das gilt für die Säbelantilope, zum Beispiel, für die es Brutzentren in u.a. Marokko und Israel gibt.

Eine andere Kategorie ist eine Art, die in Bälde ausgestorben sein wird: Einige Exemplare ihrer Art leben noch, aber sie pflanzen sich nicht fort, und die Wissenschaftler haben keine „Fortpflanzungsressourcen“ in Form von Sperma oder Eizellen. Und wieder eine andere, eine evolutionär gleichgültige Art, die sich nicht selber vermehrt, aber es gibt reproduktive Ressourcen, die ihr helfen können, sich zu vermehren. Und zu guter Letzt die weltweit ausgestorbene Art, deren letztes Exemplar gestorben ist und keine Fortpflanzungsressourcen mehr vorhanden sind.

Das Aussterben als technologische Herausforderung

In diesen Definitionen verbirgt sich eine wesentliche Behauptung: die Definition des Begriffes „ausgestorben“ hängt auch vom Stand der Wissenschaft ab. Während Wissenschaftler in der Vergangenheit nicht die Mittel hatten, Arten bei der Fortpflanzung zu helfen, und schon gar nicht, wenn alle Exemplare schon gestorben sind, können wir dies heute zumindest theoretisch mit Methoden wie Klonen oder genetischer Manipulation tun. Dies bedeutet, dass man das Wollmammut, zum Beispiel, als evolutionär gleichgültig einstufen könnte, da es vielleicht möglich ist, es wieder zum Leben zu erwecken. Es ist zwar tot, aber nicht unbedingt ausgestorben. Und so verändert sich auch das Phänomen des globalen Aussterbens.

Ihr könnt jetzt sagen, dass die Technologie das Phänomen selbst nicht beeinflusst, sondern nur unsere Fähigkeit, damit umzugehen. Wir dachten, dass das Wollmammut ausgestorben sei, und jetzt stellen wir fest, dass dies vielleicht nicht so endgültig ist, außer wir zerstören auch alle seine Überreste. Darüber hinaus hat sich nichts geändert. Aber so kehren wir wieder zu den philosophischen Fragen zurück, die wir vorher gestellt haben. Wird es wirklich ein Mammut sein? Oder erschaffen wir vielleicht eine neue Art?

Dolly, das erste geklonte Schaf. konzeptverändernde Technologie. Foto: Science Photo Library
Dolly, das erste geklonte Schaf. konzeptverändernde Technologie. Foto: Science Photo Library

Die Antwort ist: Unsere Definitionen von Phänomenen wie „aussterben“ und „Art“ sind unvollständig. Diese Phänomene sind flexibel, verändern sich und sind miteinander verbunden. In der Vergangenheit war eine drastische Änderung der Wahrnehmung nötig, um sich von der Überzeugung zu trennen, dass die Natur unveränderlich sei und die Arten nicht aussterben können. Jetzt kann eine andere Auffassung der Natur, die die menschliche Technologie als integralen Bestandteil von ihr akzeptiert, die Definition des Aussterbens erneut verändern. 

Dies ist, so scheint es, das Konzept hinter der Aussterbensskala von Novak, und tatsächlich verwenden immer mehr Wissenschaftler seine Begriffe. Die Natur hat unglaublich komplexe Fähigkeiten entwickelt, und wir können diese heute nachahmen, perfektionieren und für unsere Bedürfnisse und zugunsten der Natur nutzen. Nach dieser Auffassung greift der Mensch nicht von außen in die Natur ein, denn er ist schon Teil davon, und alles, was er tut, ist eine natürlich Handlung. 

In dieser Natur ändert sich, wie gesagt, auch das Aussterben. Sein Verständnis berührt eine Vielzahl anderer Fragen: unser Verhältnis mit anderen Arten, mit denen wir diese Erde teilen, unsere Weltauffassung (im wörtlichen Sinn), und unseren Platz in dieser Welt. Immer wieder werden Antworten auf diese Fragen angeboten, und auf die Frage, wer sie überhaupt beantworten darf. Und im nächsten Artikel, den ihr über das Aussterben liest, denkt daran, dass wir diesen Begriff vielleicht nicht richtig verstehen. Vielleicht denken wir in ein paar Jahren schon ganz anders darüber. Und falls dies geschieht, verändert sich vielleicht auch unsere Welt.