Der flaue Markt, die Verteilungsschwierigkeiten und der großzügige Financier – die „Principia“, Isaac Newtons bahnbrechendes Buch, das unser Verständnis der Grundlagen von Gravitation und Physik geformt hat, hatte auf dem Weg zur Anerkennung zahlreiche Hürden zu überwinden
Der englische Münzensammler, Mathematiker und Astronom Martin Folkes, erzählt in seinen Memoiren, wie er in Cambridge einen Studenten bei einer zufälligen Begegnung mit Sir Isaac Newton murmeln hörte: „Das ist ein Mann, der ein Buch geschrieben hat, das weder er noch irgendjemand anderer verstehen kann.“ Diese abschätzige Einstellung betraf ein Werk, das heute als eines der grundlegenden Bücher der Wissenschaft, und insbesondere der Physik, gilt – ein Buch, das die Gravitationslehre schuf und erstmals anhand von drei einfachen Gesetzen alle Arten der Bewegung beschrieb, vom fallenden Apfel bis zu den Himmelskörpern.
Doch die Worte des Studenten enthielten ein Quäntchen Wahrheit – Ende des 17. Jahrhunderts fiel es der Welt der Wissenschaft schwer, das bahnbrechende Werk des eminenten Mathematikers und Physikers zu verdauen, „Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica“ (lateinisch „Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie“), oder kurz die „Principia“ („Grundlagen“). Es handelte sich um drei Bände in lateinischer Sprache, vollgepackt mit mathematischen Gleichungen und neuen Ideen. Man darf annehmen, dass nur wenige Gelehrte zu jener Zeit über ausreichende mathematische und wissenschaftliche Kenntnisse verfügten, um das Buch in seiner ganzen Tiefe zu verstehen. Es sollten noch viele Jahre vergehen, ehe das Buch und die darin enthaltenen Ideen in der Welt der Wissenschaft Fuß fassten.
Newton. Ein Gigant, der auf den Schultern von Giganten stand | Quelle: David Perker / Science Photo Library
Die Gesetze, die die Welt bewegen
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dominierte noch immer die aristotelische Wissenschaftsauffassung, die hauptsächlich auf Intuition basierte und unter Anderem annahm, dass ein Körper sich nur bewegen kann, solange eine Kraft auf ihn wirkt. Obwohl Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler, Galileo Galilei und andere die Grundprinzipien von Aristoteles schon widerlegt hatten, fehlte eine geschlossene und konsequente Theorie, die mit methodischen mathematischen Werkzeugen die Bewegung der Körper erklärt hätte.
Die „Principia“, die erstmals am 5. Juli 1687 erschienen, fassten mehr als zwanzig Jahre des Forschens und Denkens zusammen. In ihrem Verlauf begründete Newton die Gesetze der klassischen Mechanik, definierte Grundbegriffe der Physik wie Masse, Gewicht und Impuls und wendete sie zur Berechnung der Bewegung der Himmelskörper und vieler anderer astronomischer Erscheinungen an.
Die Krönung waren die drei Bewegungsgesetze und das universelle Gravitationsgesetz. Das erste Gesetz, auch Trägheitsprinzip genannt, besagte – in völligem Gegensatz zum aristotelischen Zugang - , dass ein Körper im Ruhezustand verharrt oder sich geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit weiterbewegt, solange keine Kraft auf ihn einwirkt. Das zweite Gesetz besagte, dass die auf einen Körper wirkende Kraft gleich dem Produkt aus seiner Masse und seiner Beschleunigung ist. Und das dritte Gesetz besagte, dass, wenn ein Körper A auf einen anderen Körper B eine Kraft ausübt, der Körper B auf den Körper A eine gleich große Kraft in umgekehrter Richtung ausübt – wenn also ein Pferd einen Wagen vorwärts zieht, zieht der Wagen zugleich das Pferd rückwärts.
Das universelle Gravitationsgesetz | Quelle: BrainCityArts, Shutterstock
Auf der Basis der drei Bewegungsgesetze wandte sich Newton auch der Erklärung der Bewegung der Himmelskörper zu und entwickelte zu diesem Zweck das universelle Gravitationsgesetz. In den „Principia“ verknüpfte er erstmals die Kraft, die Gegenstände zu Boden fallen lässt, und die Kraft, die die Bewegung der Sterne bestimmt, zu einer einzigen Kraft. Er erklärte, dass zwischen zwei beliebigen Körpern eine Anziehungskraft wirkt, die proportional zur Masse der Körper und umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands zwischen ihnen ist.
Über die physikalischen Erkenntnisse hinaus legten die drei Bände des Buches weitgehend den Standard der methodischen wissenschaftlichen Veröffentlichung fest, die die Natur auf strukturierte und harmonische Weise beschreibt, basierend auf der aus experimentellen Ergebnissen hergeleiteten Formulierung von Hypothesen und deren Überprüfung.
Die treibende Kraft hinter der Veröffentlichung der „Principia“. Edmond Halley | Quelle: Gemälde vom Beginn das 18. Jahrhunderts, aus Wikipedia, gemeinfrei
Die Steine auf dem Weg zur Drucklegung
Trotz Newtons hohem Ansehen in Cambridge und bei der britischen Wissenschaftsgemeinde, war es nicht einfach, sein Buch drucken zu lassen. Zunächst wollte er selbst es nicht, weil er dachte, dass die Zeit noch nicht reif wäre. Nur eifriges Zureden durch seinen Freund, den Astronomen Edmond Halley, der heute unter Anderem durch den nach ihm benannten Kometen bekannt ist, überzeugte Newton davon, dass seine Theorie reif zur Veröffentlichung war.
Im Jahr 1684 kam Halley zu Besuch nach Cambridge, um mit Newton die Planetenbahnen im Sonnensystem zu erörtern. Als sich herausstellte, dass sein Freund über keinerlei schriftliches Material verfügte, flehte Halley ihn an, seine Erkenntnisse in einem Artikel zu publizieren, was er im November desselben Jahres auch wirklich tat. Halley begnügte sich nicht damit und übte weiterhin Druck aus, bis Newton nachgab und sich hinsetzte, um die „Principia“ zu schreiben.
Ende April 1686 präsentierte Halley vor den Mitgliedern der britischen Royal Society das Manuskript des ersten Bandes der „Principia“ und bat die Gesellschaft um Hilfe bei der Veröffentlichung. Die Royal Society versprach, seine Bitte zu prüfen, und beauftragte Halley, sie über die Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Einen Monat später berichtete Halley Newton, dass wegen der Abwesenheit des Präsidenten der Royal Society und seines Stellvertreters der Rat nicht einberufen werden könne, dass er aber ein inoffizielles Treffen genutzt habe, um die grundsätzliche Zustimmung zur Übernahme der Druckkosten für das Buch zu erhalten.
Doch am 2. Juni wurde der Beschluss revidiert, unter Anderem wegen des großen finanziellen Schadens, den die Gesellschaft kurz zuvor durch die Veröffentlichung des erfolglosen Buchs „Von der Geschichte der Fische“ („De Historia Piscium“) von Francis Willughby erlitten hatte. Die Royal Society bekräftigte ihre uneingeschränkte Unterstützung für das Buch, doch Halley sah sich gezwungen, die Veröffentlichung aus seiner eigenen Tasche zu finanzieren.
Am 5. Juli 1687 verkündete Halley Newton, „ich habe dein Buch endlich abgeschlossen, und ich hoffe, dass es dich zufriedenstellen wird“. Dem Brief waren zwanzig Exemplare „zur Verteilung an Ihre Freunde“ beigefügt, und weitere vierzig Exemplare, die Newton an die Buchhändler in Cambridge weitergeben sollte. Der Verkaufspreis wurde auf neun Shilling für die ledergebundene Ausgabe und sechs Shilling für die gewöhnliche Ausgabe festgesetzt.
Es ist interessanterweise nicht bekannt, wie viele Exemplare in dieser ersten Auflage gedruckt wurden. In einer 1953 vorgenommenen Zählung konnte der Forscher Henry Macomber weltweit nur 189 Exemplare ausfindig machen, eine Zahl, die den Schätzungen entsprach, wonach es gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Europa nur einige Hundert Gelehrte gab, die komplexe wissenschaftliche mathematische Literatur bewältigen konnten. Auf dieser Grundlage kam Macomber zum Schluss, dass die Auflage ungefähr 250 Exemplare umfasste.
Doch bei einer neuen Zählung, deren Ergebnisse 2020 publiziert wurden, wurden nicht weniger als 387 Exemplare in 27 Ländern erfasst, in öffentlichen Bibliotheken oder dokumentierten Privatsammlungen. Von 13 weiteren Exemplaren, die bei der vorangegangenen Zählung dokumentiert worden waren, ging die Spur verloren, nachdem sie mehrmals den Besitzer gewechselt hatten. Davon ausgehend schätzten die Forscher Mordechai Feingold vom California Institute of Technology (Caltech) und Andrej Svorenčík von der Universität Mannheim in Deutschland, dass Halley 600 bis 650 Exemplare der „Principia“ drucken ließ und dass 60 Prozent davon überlebt haben.
Eine Seite des Buchs, die sich mit der Wellenlehre befasst. Ausgewählte Blätter wurden an einflussreiche Personen verteilt | Quelle: Royal Institution of Great Britain / Photo Science Library
Selektive Verteilung
Als Halley sich daranmachte, das Buch zu verbreiten, das er zu Recht als Meisterwerk des wissenschaftlichen Denkens betrachtete, stieß er auf ein ungünstiges Marktumfeld. Schon 1672 hatte Newtons Kollege John Collins gewarnt, dass Verleger lateinischer Bücher in London kein Interesse an Mathematikbüchern hätten, weil es dafür keinen internationalen Markt gäbe. Collins erklärte, dass sie nicht nur nicht bereit wären, die Herausgabe solcher Bücher zu finanzieren, sondern sogar vom Autor eine Zahlung erwarteten.
Die Recherchen von Feingold und Svorenčík zeigten, dass Halley noch vor dem Erscheinen des Buchs große Anstrengungen unternahm, um in der wissenschaftlichen Gemeinde die Erwartungen aufzubauen. Zu diesem Zweck bediente er sich der Publikationen der Royal Society und verteilte sogar Blätter aus den „Principia“ an eine Gruppe ausgewählter Freunde, damit sie die Kunde verbreiteten. Aus Kopien, die führenden Zeitungen in Europa zugeschickt wurden, ergaben sich einige Rezensionen sowie Übersichtsartikel über Newtons Gravitationslehre und Bewegungsgesetze.
Einen großen Teil der Exemplare überließen Halley und Newton selbst führenden Geistesgrößen jener Zeit, wie etwa dem Philosophen John Locke, dem Astronomen John Flamsteed und sogar Newtons großem Rivalen, dem Philosophen und Mathematiker Gottfried Leibniz, der parallel zu Newton die Differentialrechnung entwickelte. Auch politische Schlüsselfiguren im Vereinigten Königreich erhielten Gratisexemplare, wie der erste Herzog von Devonshire, William Cavendish, der einer der Köpfe der Whig-Partei war, und natürlich König James II.
Die Mund-zu-Mund-Werbung bewirkte keine zufriedenstellenden Verkaufsziffern, weshalb Halley nach einigen Monaten die Exklusivrechte für die Vermarktung des Buchs dem Verteiler Samuel Smith übergab, der gute Handelsbeziehungen in ganz Europa hatte. Smith konnte tatsächlich die passende Kanäle für die Verbreitung des Buches finden und verkaufte bis 1690 einige Hundert Exemplare, unter Anderem in Amsterdam, Paris und weiteren Zentren von Kultur, Wissenschaft und Handel in jenen Tagen.
Mit den Jahren ist der Wert der Erstauflagen der „Principia“ von sechs Shilling auf Hunderttausende Pfund Sterling geklettert | Foto: Andrew Dunn, Wikipedia
Sammlerobjekt
Anfang des 18. Jahrhunderts waren alle Exemplare der ersten Auflage vergriffen und konnten nur noch gebraucht erstanden werden. 1713 willigte Newton, der schon als Präsident der Royal Society fungierte und als einer der großen Wissenschaftler seiner Generation anerkannt war, endlich in die Veröffentlichung einer zweiten Auflage ein. Nun war der Markt schon reif dafür, und die mehr als 700 Exemplare waren schon nach zwei Jahren vergriffen. Eine offizielle dritte Auflage erschien 1726, einige Monate vor Newtons Tod, und schon zuvor waren mindestens zwei unautorisierte Auflagen in Amsterdam erschienen. Das Buch „Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie“ hat sich den ihm angemessenen Rang als eines der prägenden Werke der Wissenschaft erworben.
„Im 18. Jahrhundert ging die Bedeutung der Newtonschen Ideen über die Wissenschaft selbst hinaus. Auch auf anderen Gebieten hofften Menschen, ein einziges allgemeines Gesetz zu finden, das ihr Wissen zusammenfassen würde, wie Newton es getan hatte. Der Einfluss Newtons, wie jener von Charles Darwin und Albert Einstein, strahlte in viele Bereiche des Lebens aus und machte ihn zu einer kanonischen Figur“, führte Feingold in einem Interview mit der Caltech-Webseite aus.
Der Rang und die Wichtigkeit drücken sich auch im Preis aus. Exemplare der ersten Auflage der „Principia“, die ursprünglich 6 bis 9 Shillings kosteten, werden heute auf Auktionen um bis zu drei Millionen Dollar verkauft, abhängig vom Zustand des Buchs und der Genealogie seiner Vorbesitzer. Beispielsweise wurde am 9. Juli 2019 ein Exemplar der ersten Auflage der „Principia“ im Auktionshaus Christie’s um fast 500.000 Pfund verkauft. Ein ähnliches Exemplar, das ursprünglich ein italienischer Gelehrter erworben hatte, wurde bei Sotheby’s um 375.000 Pfund verkauft.
Aber weit über dem materiellen Wert des Buchs und seiner ikonischen Stellung rangieren die Ideen. Die „Principia“ haben das wissenschaftliche Denken und Forschen seit 350 Jahren bis zum heutigen Tag geprägt. Die darin dargelegten Prinzipien von Mechanik und Gravitation sind immer noch größtenteils gültig, trotz wichtiger Anpassungen, die im 20. Jahrhundert durch Albert Einsteins Relativitätstheorie und die Quantenmechanik geliefert wurden, in Bezug auf Bewegung mit Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit und auf Vorgänge in sehr kleinen Maßstäben. „Das Buch, das niemand verstehen kann“, bleibt bis heute ein Leuchtfeuer einzigartiger Erkenntnisse über die Natur.